EU & klimaneutrale Wirtschaft

Netto-Null-Industrie-Verordnung

In Reaktion auf den amerikanischen Inflation Reduction Act hat die EU-Kommission im März 2023 einen Vorschlag für die Netto-Null-Industrie-Verordnung (Net-Zero-Industry-Act, NZIA) vorgelegt, mit der bessere Bedingungen und mehr Investitionen für saubere Technologien in Europa geschaffen werden sollen. Mit dieser Verordnung werden die Rahmenbedingungen für eine zukünftige klimafreundliche Produktion der Industrie gesetzt.
Ziel ist es, die Produktionskapazität für die strategisch wichtigsten Netto-Null-Technologien bis 2030 auf mindestens 40 Prozent des Bedarfs der Union zu erhöhen. EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen betonte, dass die Netto-Null-Industrie Verordnung ein regulatorisches Umfeld schaffe, das einen schnellen Übergang zu sauberer Energie ermögliche und den Sektoren, die zur Erreichung der Klimaneutralität bis 2050 entscheidend seien, den notwendigen Schub gebe. Zu diesen Sektoren gehören Photovoltaik- und solarthermische Anlagen, Onshore-Windkraft- und erneuerbare Offshore-Technologien, Batterie- und Speichertechnologien, Wärmepumpen und Technologien für geothermische Energie, Elektrolyseure und Brennstoffzellen, nachhaltige Biogas bzw. Biomethantechnologie, Technologien zur CO2-Abscheidung und -speicherung sowie Grid-Technologien.
Für die norddeutsche Wirtschaft ist es wichtig, die Resilienz der europäischen Lieferketten für erneuerbare Energien zu stärken und damit die Abhängigkeit der EU von Importen zu reduzieren. Mit dem Plan RePowerEU[1] hat die EU die Abhängigkeit von russischen Gaslieferungen bereits deutlich reduzieren können. Mit dem NZIA geht die EU nun den nächsten Schritt, indem sie die Produktion der Schlüsseltechnologien im Bereich der Erneuerbaren in der EU halten und sicherstellen will, dass die EU für eine klimaneutrale Wirtschaft gerüstet ist. Auf diese Weise soll der Wirtschaftsstandort Europa zukunftssicher entwickelt werden. Gleichzeit gilt es, die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen und der Wirtschaftsstandorte in der EU zu sichern.

Relevanz für Norddeutschland

Der NZIA unterteilt die Netto-Null-Technologien in verschiedene Kategorien, die strategischen Netto-Null-Technologien sind hierbei prioritär und genießen die meisten Vorteile, beispielsweise bei der Beschleunigung der Genehmigungsverfahren. Hinsichtlich der strategischen Netto-Null-Technologien legt der NZIA sektorspezifische Produktionsziele bis zum Jahr 2030 fest: 40 Prozent des jährlichen Einsatzes von Netto-Null Technologien soll durch Produktion innerhalb der EU gedeckt sein. Zu den strategischen Netto-Null-Technologien des NZIA gehören für Norddeutschland höchstrelevante Technologien:
  • Erneuerbare Offshore-Energie
Nach dem NZIA soll die Produktionskapazität von Wind (On- und Offshore) bis 2030 mindestens 36 GW erreichen. Die Rolle Norddeutschlands im Offshore-Bereich ist enorm – für ganz Deutschland und auch für Europa. Im Jahr 2022 waren in Deutschland Offshore-Windenergieanlagen mit einer Leistung von gesamt knapp 8,1 GW in Betrieb. Der Großteil (ca. 7 GW) ist in der Nordsee und ca. 1,1 GW sind in der Ostsee installiert.[2] Norddeutschland gehört zu den größten Offshore Wind Produzenten in Europa.
  • Elektrolyseure und Brennstoffzellen
Nach dem NZIA soll die installierte Elektrolyseurkapazität für die Herstellung von Wasserstoff mindestens 100 GW betragen. Dies dient der Umsetzung der Ziele des RePowerEU Plans, nach welchem die EU bis 2030 10 Millionen Tonnen erneuerbaren Wasserstoff produzieren will.  
Zusammen mit dem NZIA wurden Vorschläge für eine Europäische Wasserstoffbank vorgelegt. Die Europäische Wasserstoffbank soll die Erzeugung und Nutzung von erneuerbarem Wasserstoff in der EU unterstützen und dessen Einfuhr von internationalen Partnern und Abgabe an europäische Verbraucher erleichtern.
Mit dem Zugang zum Meer und den hohen Erzeugungskapazitäten von On- und Offshore-Windstrom kann Norddeutschland eine grüne Wasserstoffindustrie aufbauen, den Rohstoff vor Ort emissionsfrei produzieren, speichern sowie erzeugungsnah nutzen und damit in Norddeutschland die Wertschöpfung generieren.
Die norddeutschen Seehäfen werden als Energieknotenpunkte für den In- und Export von Wasserstoff von Bedeutung sein, als auch für sämtliche Energieträger. Nach den Angaben des vom Bundesministerium für Bildung und Forschung herausgegebenen Wasserstoffatlasses ist für die fünf norddeutschen Bundesländer bis zum Jahr 2030 eine Marktentwicklung von insgesamt ca. 3,7 GW installierte Elektrolyseleistung möglich.[3] Das entspricht fast 40 Prozent der bundesweiten Zielangabe für die Elektrolyseurkapazität.
Im Bereich der sonstigen Netto-Null Technologien ist der Norden ebenso betroffen:
  • Alternative Treibstoffe in der Schifffahrt
Der NZIA listet nachhaltige alternative Kraftstoffe als sonstige Netto-Null Technologie auf. Mit einer Fußnote nimmt der NZIA Bezug auf die FuelEU Maritime Regelung. Alternative Treibstoffe spielen für den Norden eine herausragende Rolle. Insbesondere durch die Ausweitung des europäischen Emissionshandels auf den Seeverkehr und die Emissionsreduktionsvorgaben der FuelEU Maritime und der damit verbundenen Bepreisung von Emissionen in der Schifffahrt, wird der Bedarf an alternativen Treibstoffen in der Schifffahrt steigen.
Mit einer verstärkten Produktion der Netto-Null-Technologien im Bereich Offshore, Elektrolyseure, Brennstoffzellen sowie nachhaltigen alternativen Treibstoffen in der norddeutschen Schifffahrt kann die Region ihre Standortattraktivität stärken und Schlüsseltechnologien für die Energiewende im Norden halten.

Bewertung der Norddeutschen Wirtschaft

Mit dem Inflation Reduction Act der USA und der europäischen Antwort hierauf durch den NZIA hat das Tauziehen um den Verbleib der relevanten Klimatechnologien in Europa gerade erst begonnen. Schlüsseltechnologien lassen sich nur dann vor Ort halten, wenn attraktive Rahmenbedingungen geboten werden. Dass die EU nun durch den NZIA Maßnahmen vorschlägt, um diese in Europa zu halten, ist daher grundsätzlich zu begrüßen.
Durch die Unterteilung in strategische und nicht-strategische Netto-Null Technologien besteht jedoch die Gefahr, ein Europa der zwei Geschwindigkeiten zu schaffen. Die Verkürzung der Genehmigungszeiten geht der norddeutschen Wirtschaft nicht weit genug. Darüber hinaus fehlt der norddeutschen Wirtschaft eine Anerkennung der strategischen Bedeutung der Schifffahrt im Rahmen des NZIA und sieht im Bereich der alternativen Treibstoffe Verbesserungsbedarf. Zudem sollten die Strukturen von H2Global für die Europäische Wasserstoffbank genutzt werden. Die Bewertung der IHK Nord im Einzelnen:
  • Schifffahrt stärken: nachhaltige alternative Treibstoffe in der Schifffahrt und  RFNBO als strategische Netto-Null Technologien klassifizieren
Die Bezugnahme des NZIA zur FuelEU Maritime Verordnung ist zu begrüßen, da nachhaltige alternative Treibstoffe in der Schifffahrt als Netto-Null-Technologie anerkannt werden. Aus Sicht der norddeutschen Wirtschaft wäre es wünschenswert, nachhaltige alternative Treibstoffe in der Schifffahrt in den Annex aufzunehmen und damit eine Klassifizierung als strategische Netto-Null-Technologie zu erreichen. Mit der Bepreisung von Emissionen durch die Einbeziehung des Seeverkehrs in den Emissionshandel, als auch durch die Emissionsreduktionsvorgaben der FuelEU Maritime, wird der Bedarf im maritimen Sektor stark ansteigen. Zudem würde eine Klassifizierung als strategische Netto-Null Technologie auch die Bedeutung des maritimen Sektors unterstreichen, immerhin ist dieser europaweit für die Aufrechterhaltung der Lieferketten und der Ernährungssicherheit verantwortlich.
Eine Aufnahme von erneuerbaren Brenn- und Kraftstoffen nicht biogenen Ursprungs (renewable fuels of non-biological origin, RFNBO) in den Annex und damit eine Aufnahme in die strategischen Netto-Null Technologien wäre für die Stärkung der Schifffahrt vorteilhaft. Nach dem Ergebnis der Trilogverhandlungen vom 23. März 2023 zu FuelEU Maritime werden erneuerbaren Brenn- und Kraftstoffen nicht biogenen Ursprungs (renewable fuels of non-biological origin, RFNBO) im Rahmen der FuelEU Maritime eine größere Rolle spielen. Ab 2034 soll eine Mindestquote von 2 Prozent für RFNBO gelten, sofern im Jahr 2031 die Nutzung von RFNBO nicht bei mindestens 1 Prozent liegt. Schiffseigner, die in der Übergangszeit von 2025 bis 2034 RFNBO verwenden, sollen als Anreiz zur Nutzung von RFNBO Emissionskompensationen erhalten.
Nach Berechnungen der European Federation for Transport and Environment (T&E) würde eine Mindestquote von 2 Prozent für RFNBO in der FuelEU Maritime bedeuten, dass schätzungsweise 514 Kilotonnen Öleinheiten (ktoe) an fossilen Treibstoffen durch RFNBO ersetzt werden müssten.[4]
Die IHK Nord fordert die Aufnahme von nachhaltigen alternativen Treibstoffen in der Schifffahrt sowie von RFNBO in den Annex des NZIA, um eine Klassifizierung als Netto-Null Technologie zu erreichen.
  • Schlüsselprojekte der maritimen Wirtschaft fördern: Projekte des EU-ETS Innovationsfonds als strategische Netto-Null Technologie anerkennen
Neben der Auflistung der strategischen Netto-Null Technologien im Annex des NZIA besteht noch eine weitere Möglichkeit der Anerkennung als strategische Netto-Null Technologie. Nach dem NZIA können Projekte, die Teil des Innovationsfonds des europäischen Emissionshandels (EU-ETS) sind, von den Mitgliedsstaaten als strategische Netto-Null Technologie anerkannt werden, wenn eine entsprechende Bewerbung hierfür von den Projektverantwortlichen eingereicht wird.
Im Rahmen der Einbeziehung des Seeverkehrs in den EU-ETS wurde beschlossen, dass die Erlöse aus dem Verkauf von 20 Millionen Emissionszertifikaten über den Innovationsfonds direkt in den maritimen Sektor reinvestiert werden sollen. Für den maritimen Sektor ergäbe sich demnach zukünftig die Möglichkeit, entsprechende Schlüsselprojekte der maritimen Wirtschaft im Innovationsfond als strategische Netto-Null Technologie zu klassifizieren.
Die norddeutsche Wirtschaft unterstützt die Regelung des NZIA, nach denen Projekte des EU-ETS Innovationsfonds als strategische Netto-Null Technologie anerkannt werden können von den Mitgliedsstaaten. Die IHK Nord fordert, in Zukunft hiervon für Schlüsselprojekte in der maritimen Branche aktiv Gebrauch zu machen.  
  • Genehmigungszeiten weiter verkürzen und an Vorgaben des BImSchG anpassen
Der NZIA gibt sowohl für strategische als auch für sonstige Netto-Null-Technologien verschiedene Vorgaben zur Beschleunigung von Genehmigungen vor. Dies ist zu begrüßen, da die zu langen Genehmigungszeiten ein großes Hindernis der Energiewende darstellen.
Für Netto-Null-Technologien wird die Frist für Genehmigungsverfahren auf 12 bis 18 Monate begrenzt (bzw. 6 bis 9 Monate bei Kapazitätsausweitung), bei strategischen Netto-Null-Technologien ist eine Genehmigungsfrist von 9 bis 12 Monaten vorgesehen (bzw. 4 bis 6 Monate bei Kapazitätsausweitung).
Die Einteilung in zwei verschiedene Genehmigungsgeschwindigkeiten ist kritisch zu bewerten: es darf kein Europa der zwei Geschwindigkeiten entstehen, ganz besonders dann nicht, wenn zentrale Technologien als nicht strategisch gewertet werden (s.o. zu RFNBO).
Mit den vorgeschlagenen Genehmigungsfristen bleibt der NZIA hinter den deutschen Vorgaben des Bundesimmissionsschutzgesetzes (BImSchG) zurück. Nach dem BImSchG sind Genehmigungszeiten von 3 bzw. 7 Monaten vorgesehen, dies sollte auf europäischer Ebene als Maßstab gelten. Darüber hinaus wäre es erstrebenswert, wenn der NZIA sich nicht allein auf das Endprodukt konzentriert, sondern sich die Genehmigungsbeschleunigung auf die gesamte Wertschöpfungskette bezieht.
Um den Mitgliedstaaten zur Umsetzung der Genehmigungsfristen Hilfestellung zu bieten, sollte die EU-Kommission Richtlinien an die Hand geben und die Net-Zero Industry Plattform für den Austausch von Best-Practice nutzen. Zudem sollte zur effektiven Umsetzung ein Mechanismus bei Nichtbeachtung der Fristen gelten, dies könnte beispielsweise eine Genehmigungsfiktion sein.
Die IHK Nord fordert, die Genehmigungsfristen des NZIA für strategische Netto-Null Technologien an die Fristen des BImSchG anzupassen und auf maximal 3 bis 7 Monate herabzusetzen, sowie neben dem Endprodukt auch die Wertschöpfungskette miteinzubeziehen.
  • Strukturen von H2 Global für die Europäische Wasserstoffbank nutzen
Ziel des Programms H2Global ist es, den internationalen Markthochlauf von grünem Wasserstoff voranzubringen und hierfür sogenannte Doppelauktionsverfahren mit Differenzkostenausgleich zu nutzen. Damit soll Wasserstoff oder Wasserstoffderivate über Auktionen auf dem Weltmarkt eingekauft und in der EU meistbietend verkauft werden. Das operative Tochterunternehmen HINT.Co fungiert als Intermediär. Da der Ankaufspreis auf absehbare Zeit deutlich über dem erzielbaren Marktpreis liegen wird, wird HINT.Co zum Ausgleich der Differenzkosten in Deutschland vom BMWK gefördert (aktuell mit 900 Millionen Euro). Anfang Dezember 2022 startete die erste Auktion für im Ausland produzierten Wasserstoff. Die ersten Lieferungen dieser Derivate nach Deutschland und Europa sind für Ende 2024 geplant. Im Rahmen des Bundeshaushalts 2023 sind weitere 3,5 Mrd. Euro für neue Bieterrunden mit Laufzeiten bis zum Jahr 2036 geplant. Das zeigt: die über H2Global entwickelten Prozesse und aufgebauten Strukturen für marktbasierte Prozesse sind effektiv. Vor allem bei Wasserstoffimporten aus Drittstaaten, die keine ausreichenden regulatorischen Rahmenbedingungen für Wasserstoff haben, kann den Produzenten mit dem Doppelauktionsmodell von H2Global die notwenige Planungssicherheit gegeben werden. Das Modell von H2Global hat aus marktwirtschaftlicher Sicht deutliche Vorteile, da es darauf ausgerichtet ist, Marktstrukturen zu etablieren, so könnte ein langfristig funktionsfähiger Markt entstehen. Das Prämienmodell, das die Europäische Wasserstoffbank zur Förderung für innerhalb der EU produzierten, grünen Wasserstoff einführen möchte („domestic leg“), kann durch seine einfachere Struktur direkt und schnell umgesetzt werden. Die Europäische Wasserstoffbank sollte für den Import von Wasserstoff bzw. Wasserstoffderivaten („import leg“) das vorhandene Know-How von H2Global nutzen und in enger Zusammenarbeit (idealerweise am Standort Hamburg) die bereits funktionierenden, marktbasierten Prozesse in ihr Geschäftsmodell integrieren und umsetzen.
Die IHK Nord fordert, die Strukturen von H2 Global für die Europäische Wasserstoffbank zu nutzen, um den Import von Wasserstoff zu fördern. Die IHK Nord begrüßt daher die Entscheidung, dass H2Global zu einem integralen Bestandteil der Europäischen Wasserstoffbank für den Import von Wasserstoff werden soll.

Zusammenfassung

Die IHK Nord fordert:
  • die Aufnahme von nachhaltigen alternativen Treibstoffen in der Schifffahrt sowie von RFNBO in den Annex des NZIA, um eine Klassifizierung als Netto-Null Technologie zu erreichen.
  • von der Regelung des NZIA, nach denen Projekte des EU-ETS Innovationsfonds von den Mitgliedstaaten als strategische Netto-Null Technologie anerkannt werden können, aktiv Gebrauch zu machen für Schlüsselprojekte der maritimen Branche.
  • die Genehmigungsfristen des NZIA für strategische Netto-Null Technologien an die Fristen des BImSchG anzupassen und auf maximal 3 bis 7 Monate herabzusetzen, sowie neben dem Endprodukt auch die Wertschöpfungskette miteinzubeziehen.
  • die Strukturen von H2 Global für die Europäische Wasserstoffbank zu nutzen, um den Import von Wasserstoff zu fördern. Die IHK Nord begrüßt die Entscheidung, dass H2Global zu einem integralen Bestandteil der Europäischen Wasserstoffbank für den Import von Wasserstoff werden soll.

[1] Stellungnahme der IHK Nord abrufbar unter https://www.ihk-nord.de/produktmarken/schwerpunkte/energiepolitik-industriepolitik/repower-eu-5651214[2] Status des Offshore-Windenergieausbaus in Deutschland im Jahr 2022, Deutsche Windguard,[3] www.wasserstoffatlas.de[4] https://www.transportenvironment.org/wp-content/uploads/2023/01/202301_TE-Briefing-Why-an-e-fuel-mandate-for-shipping.pdf